Volle Fahrt voraus auf der Datenautobahn

Stigmella aurella/splendidissimella-Mine an Brombeere, Dormagen, 21. Februar 2020.
Bestimmt mit iObs für Apple/Iphone/Ipad (Foto: Armin Dahl)

 

Nichts bleibt wie es ist, auch nicht in der Insektenkunde. Neue Techniken halten Einzug, und die Arbeitsweise verändert sich. Wer sich gegen die Entwicklung stellt, landet wortwörtlich in der Mottenkiste. Ein Zwischenstand aus dem Frühjahr 2020.

Den 5. Juli 2015 werde ich in meinem Leben nicht vergessen. Im bayerischen Kitzingen wurden an diesem Tag 40,3°C gemessen, ein neuer Hitzerekord in Deutschland. Wir waren an diesem Termin auf Tagfalterexkursion am Mittelrhein unterwegs. Nachmittags um 15.00 Uhr hatte sich die Dörscheider Heide oberhalb von Kaub in einen Backofen verwandelt, die Zunge klebte am Gaumen, Falter wurden keine registriert – viel zu heiß!

Kaum vier Jahre hielt der Rekord.  Am 25. Juli 2019 wurde in Lingen im Nordwesten unseres Arbeitsgebiets ein neuer Rekord in Deutschland aufgestellt, die Messstation registrierte unfassbare 42,6 Grad Celsius. An diesem Tag wurden übrigens an weiteren 14 Messstationen Rekordtemperaturen gemessen, die über dem bisherigen Rekord in Kitzingen im Juli/August 2015 lagen. In meinem Garten waren es gemessene 41°,  bei solchen Temperaturen geht der Lichtfang erst um Mitternacht so richtig los, vorher ist es selbst den Motten zu warm.

Entomologisch betrachtet sind das extrem spannende Zeiten, wird doch der allgemeine, unter anderem durch Agrargifte und -methoden, Nutzungsaufgabe und „falschen“ Waldbau hervorgerufene Artenrückgang, zusammengefasst „Insektensterben“, in Teilen vom Klimawandel hinterrücks eingeholt: Einflüge von südlich verbreiteten Arten häufen sich, Arealgrenzen verschieben sich nach Norden, verschollen geglaubte Arten tauchen wieder auf.

Auf meinen Hausgarten im Niederbergischen zwischen Düsseldorf und Wuppertal bezogen bedeutet das: Alleine in den vergangenen zehn Jahren sind vier neue Tagfalterarten hinzugekommen (Cupido argiades, Aricia agestis, Argynnis paphia, Pieris mannii) die sich dort regelmäßig beobachten lassen, und die in der Region offensichtlich etabliert sind. Das ist viel bei insgesamt unter 30 Tagfalter-Arten! In den Sommernächten fliegen hier plötzlich Nachtfalter-Arten wie Spanische Flagge, Labkrautschwärmer und das tropisch-bunte Eulchen Eublemma purpurina an – vor zehn Jahren noch unvorstellbar.

Jeden Tag neue Daten! Selbst im Winter, zumal wenn es keinen Frost gibt wie in der Saison 2019/20. Wintereulen fliegen fast bei jedem Wetter, zudem gibt es Blattminierer, die keine Jahreszeit scheuen, und alles muss festgehalten werden. Blöckchen, Kugelschreiber und Digitalkamera kommen bei der Dokumentation der Tiere immer seltener zum Einsatz, Belegbilder macht jetzt das Smartphone, das gleichzeitig die Falterzahlen registriert, Funde verortet und beim Bestimmen hilft.

Und bevor jetzt jemand aufschreit: Ja, man kann Tag- und Nachtfalter mit dem Handy bestimmen! Die Technik, mit der man eineinhalb Milliarden Chinesen beim überqueren einer Straßenkreuzung voneinander unterscheiden kann, ist auch in der Lage, ein paar hundert Eulenfalter, Graszünsler- und Wicklerarten mehr oder weniger sicher auseinanderzuhalten. Das alles hat mit künstlicher Intelligenz nichts zu tun, ist ein Produkt aus Mustererkennung und Erfahrung, und muss natürlich gelernt werden. Genau wie sich unsereiner die Falter vom Experten beibringen lässt, oder aus dem Bestimmungsbuch oder Lepiforum abschaut, lernen die Maschinen und Algorithmen an vom Menschen vorbestimmten Digitalfotos, und sie lernen fix!

Mal ganz abgesehen davon ist das alles völlig kostenfrei zu haben, man muss sich nur einmal online registrieren, und kann dann die Bestimmungs- und Kartierapps nutzen. Im Auslandsurlaub wie zu Hause, 24 Stunden rund um die Uhr, auch mitten im Wald im Funkloch, mit Smartphone, Tablet oder PC.

Das alles erscheint mir ähnlich revolutionär wie vor wenigen Jahren die neue Möglichkeit, mittels Genomanalyse die Verwandschaftsverhältnisse von Arten, Gattungen und Schmetterlingsfamilien aufzuklären. Auch wenn ich als braver Faunist die High-Tec-Methoden beim Barcoding, Analyse der Mitochondrien-DNA usw. nicht mehr komplett verstehe: Die Methoden sind etabliert, auseinandersetzen muss ich mich  damit, spätestens wenn es mal wieder systematische Umgruppierungen gibt. Jüngstes Opfer der Methode sind die Dickkopffalter, bei denen eine Reihe von Arten der Gattung Carcharodus zukünftig unter Muschampia zu laufen haben, in unserem Arbeitsgebiet zum Beispiel der Loreley-Dickkopffalter Muschampia lavatherae.

Ausschnitt aus ZHANG et al. 2020. Quelle: Zootaxa

Wo stehen wir nun im Frühjahr 2020 als Verein, mit einem etwas angestaubt wirkenden Hobby, in Zeiten von Insektensterben und Klimawandel? Nach meinem Eindruck sind wir vergleichsweise gut aufgestellt! Der EDV-erfasste Datenbestand der Arbeitsgemeinschaft in der Insectis©-Datenbank hat sich in sechs Jahren mehr als vervierfacht, angefeuert von unermüdlichen Mitgliedern in den verschiedenen Landesteilen, die jeder Jahr für Jahr mehrere tausend Einzelbeobachtungen beisteuern. Wir sitzen auf einem riesigen Datenberg, in Deutschland haben nach meiner Einschätzung nur die Kollegen aus dem Karlsruher Museum Zugriff auf ähnliche Mengen an Schmetterlingsdaten von Tag- und Nachtfaltern.

Datenstand der Vereinsdatenbank, Exportdatensätze, Stand 7. März 2020

Das gibt uns gute Möglichkeiten, größere Auswertungen vorzunehmen, der Aufwand dafür ist zwar erheblich, das Ergebnis kann sich dann aber auch sehen lassen. Siehe zum Beispiel die neueste Publikation von Rudi Pähler, der keine Mühen und Kosten gescheut hat um aus dem Konvolut von Beobachtungen 37 häufiger Arten ein lesbares Buch zu erstellen – leider sind die Ergebnisse und Aussichten dabei eher düster. Dass wir mit der Melanargia unter Schriftleiter Günter Swoboda zudem eine solide Publikationsmöglichkeit haben, die in diesem Jahr ihren 32 Jahrgang erlebt, davon träumen andere Vereine und ganze Bundesländer nur!

Die Mitgliederzahl des Vereins ist mit über 300 stabil bis steigend, das ist eine sehr gute Nachricht. Das Interesse an Insekten ist insgesamt in der Bevölkerung stark gestiegen, hier mal nur ein Beispiel als Vergleich: Beim oft gescholtenen Netzwerk Facebook sind alleine in der Gruppe „Einheimische Schmetterlinge“ mehr als 3000! registrierte Nutzer unterwegs, darunter viele professionelle Fotografen mit phantastischen Bildern von seltenen Arten. Naturschutzbegeisterte Laien mit viel Freizeit und Reiselust findet man dort zuhauf, wer regionalen Anschluss braucht, der muss nicht lange suchen. Etliche dieser Nutzer konnten wir in den vergangenen Jahren als Vereinsmitglieder rekrutieren, sei es über Hilfe bei der Bestimmung, Exkursionen oder Veranstaltungen und Vorträge. Selbst die Facebook-Gruppe „Buchsbaumzünsler“ (über 500 Mitglieder, die meisten davon keine echten Insektenfans!) liefert noch wertvolle Informationen, zum Beispiel Hinweise auf Sekundärliteratur wie„Buchsbaumzünsler – Die Natur schlägt zurück“.

Insgesamt gesehen nimmt der Umgang mit dem Internet einen immer breiteren Raum ein, niemand kann z.B. heutzutage über Eifel-Falter publizieren, ohne einen (neidischen) Blick in die observation-Datenbanken der westlichen Nachbarländer zu werfen. Das hat uns natürlich keine Ruhe gelassen, und seit wenigen Wochen haben wir jetzt die Möglichkeit, Daten von observation „per Knopfdruck“ (jedenfalls fast) in unsere Insectis-Anwendung zu übertragen. Das gleiche gilt für alle, die ihre Daten und Digitalbilder unter naturgucker.de aufbewahren. Dank geht hier vor allen an das „Konvertiten“-Team Uli Retzlaff, Brigitte & Hajo Schmälter sowie Jörg Siemers.

Beobachtungsstatistik aus observation.org: Es gibt ja nicht nur Schmetterlinge!

Wo der Vorteil dieser Online-Datenbanken liegt, das muss jeder für sich selbst ausprobieren. Nutzerfreundlich, schnell, und zudem viel genauer als die Datenerhebungen aus der Vergangenheit sind sie allemal. Als Nutzer hat man einen tagesgenauen Überblick über das, was die Kollegen so machen, Fotos werden bei den Beobachtungen abgelegt und angezeigt, Statistiken und Verbreitungskarten angeboten. Technisch ist das ziemlich ausgereift, auch was die immens wichtige Qualitätskontrolle angeht. Wer wie ich (und übrigens auch Heinz Schumacher!) seit 10 Jahren Tipp- und Eingabefehler aus Excel- oder Access-Tabellen heraussucht, sagt schon jetzt Danke!

Nur ein Beispiel, an dem man erkennt, wie das Hobby zur Last werden kann: Die Erstellung der Roten Listen frisst momentan bei einigen Mitgliedern erhebliche Zeit, die man/frau auch gerne für andere Dinge verwenden würde. Den Schwarzen Peter als Koordinator hat dabei Heinz (-Peter) Schumacher, der sich mit endlosen Excel-Listen aus verschiedensten Naturräumen herumschlagen darf, alles für die Ehre natürlich. Das schreit förmlich nach einer vernünftigen EDV-Lösung, bei der man mit verschiedenen Menschen parallel an einem Projekt arbeiten kann. Den Internet-Datenbanken gehört dabei meines Erachtens die Zukunft!

Schnelle Übersicht: Nachweise von Zimmermannia liebwerdella aus NRW, Stand 5. März 2020, Quelle: nrw.observation.org

 

 

Das alles bedeutet übrigens keineswegs, dass wir vom Klassiker Insectis als Vereinsdatenbank abrücken. Es gibt Euch jedoch die Möglichkeit, Daten auch in die modernen Online-Systeme abzulegen. Einarbeiten und eingewöhnen muss man sich allerdings überall. Ich selbst habe ein komplettes Jahr auf beiden Systemen meine Funde eingegeben. Ich möchte die online-Versionen nicht mehr missen, werde 2020 meine Daten ausschließlich dort eingeben und von dort nach Insectis exportieren. Wer mithelfen will, zum Beispiel die Vorbestimmungen bei den „Mikros“ zu überprüfen, der möge sich gerne melden, es werden noch Administratoren gesucht.

Á propos melden: Bitte teilt mir oder irgend jemand anderem aus dem Melanargia-Vorstand alle Termine, Vorträge, Exkursionen rund um das Thema Schmetterlinge rechtzeitig mit, wir übernehmen diese dann in den Terminkalender der Webseite.

Die Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft musste in diesem Frühjahr leider wegen der allgemeinen Coronavirus-Verunsicherung ausfallen. Sie wird irgendwann im Sommer nachgeholt, eventuell in Verbindung mit einer Exkursion. Der Termin steht noch nicht fest, Vorschläge erbeten! Bis dahin allen eine falterreiche Saison 2020!

 

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