Insektenschwund – Was macht Deutschland so speziell?

Buchen-Mischwald bei Grevenbroich

Abb. 1: Wenn die Wälder so aussehen, können wir Satyrium ilicis selbstverständlich vergessen. Eichen-Buchen-Mischwald bei Grevenbroich am 1. Juni 2020. Foto: A. Kaltenberg.

Spätestens seit 2017 wissen es alle: Wir haben im letzten Vierteljahrhundert Dreiviertel unserer Insekten verloren, und das in Schutzgebieten [1].

Man braucht die Windschutzscheibe nicht mehr zu reinigen, und kann an warmen Sommerabenden ungehemmt die Fenster der hell erleuchteten Zimmer offenlassen. Aber auch sonst fällt es jedem aufmerksamen Spaziergänger auf: Über die Feldwege rennen keine Laufkäfer mehr. Pterostichus und Amara sind weg.

Aber wie weit lässt sich dieses erschreckende Geschehen verallgemeinern? Betrifft es alle Insektengruppen? Auch die Wespen? Verschwinden die Insekten gleichermaßen auf Feld, Wiese und Wald, am Land und im Wasser? Ist die ganze Welt vom Insektenrückgang betroffen?

Hierzu erschienen in den letzten beiden Jahren mehrere aufschlussreiche Artikel, und das sogar in „Nature“ und „Science“. Die Aussage verblüfft schon etwas: Der Insektenschwund ist offenbar nirgends so drastisch wie in Deutschland. Waren wir nicht immer der Meinung, dass die Amerikaner oder die Asiaten in Feld und Garten noch mehr Gifte einsetzen als wir in Deutschland?

„Nature ecology & evolution“ berichtet in 2020 von der Erfassung hunderter von Arten aus den meisten herkömmlichen Insektenordnungen in 68 verschiedenen naturnahen und gemanagted Habitaten in den U.S.A. über einen Zeitraum von 4 – 36 Jahren bis 2019 [2]. Selbstverständlich fanden die Autoren bei den verschiedenen Taxa und an den verschiedenen Orten Schwankungen in den Artenzahlen und Individuenmengen. Aber die Netto-Bilanz der Biodiversität und Abundanz der Insekten in den letzten Jahrzehnten lag bei null. In den U.S.A. konnte kein generelles „Insektensterben“ nachgewiesen werden. Die Gewinner haben die Verlierer ausgeglichen. Das überrascht.

In „Science“ findet man in 2020 eine Bilanz zur Entwicklung der weltweiten Insektenbestände zwischen 1960 und 2005. Die Häufigkeit und Biomasse der Insekten wurden in 41 Ländern an 1676 Orten in unterschiedlichen Klimazonen gemessen [3]. Zwar wurde (wie wir erwarten) im Mittel eine (allerdings leichte) weltweite Abnahme der terrestrischen Insekten ermittelt, aber es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen Nord-Amerika und Europa: während die Insekten in Nord-Amerika seit 2000 nicht mehr weiter abgenommen haben („no longer negative since 2000“), verzeichnet Mitteleuropa seit 2005 einen besonders starken Rückgang. Das betrifft allerdings nur die terrestrischen Arten. Die Tendenz der aquatischen Insekten ist in Nord-Amerika und Europa schon seit 1960 positiv und hat in den letzten Jahrzehnten nicht abgenommen.

Auch Großbritannien scheint schon vor dem vollzogenen Brexit aus Europa ausgeschieden zu sein. In „Nature ecology & evolution“ wird in einem Langzeit-Monitoring nachgewiesen, dass die Biomasse an Noctuiden nach einem deutlichen Anstieg zwischen 1967 und 1982 dann zwar bis 2017 wieder leicht abgenommen hat, jedoch am Ende (2017) immer noch signifikant über den Werten von 1970 liegt [4]. Eine Korrelation zu den Niederschlagsmengen, der Temperatur, der urbanen Beleuchtung oder der Intensität landwirtschaftlicher Eingriffe in die Natur konnte nicht nachgewiesen werden.

Doch was ist jetzt mit Deutschland? In „Nature“ wird 2019 gezeigt, dass in drei Regionen Deutschlands zwischen 2008 und 2017 mehr als eine Million Arthropoden-Individuen in ca. 300 verschiedenen Habitaten an Artenzahl und Biomasse um 34 – 78% abgenommen haben [5]. Davon sind besonders die landwirtschaftlich genutzten Offenlandschaften, aber auch die nicht landwirtschaftlich genutzten Grasländer betroffen (150 Orte untersucht). Aber auch die Wälder zeigten in diesem Zeitraum zwar einen geringeren, aber immer noch 36 – 41%igen Schwund an Arten und Biomasse.

Was macht Deutschland so speziell? Es ist unwahrscheinlich, dass Deutschland von den Giften und vom Klimawandel stärker betroffen ist als die anderen Länder. Möglicherweise wirkt sich in Deutschland wegen der hohen Qualität der Böden und dem günstigen Klima die Eutrophierung stärker aus als in anderen Ländern. Die Stickstoff-Düngung durch die Atmosphäre führt in Deutschland anscheinend überall zur Überwucherung der Böden mit dichter hoher Vegetation (Abb. 1).

Schutthaufen

Abb. 2: Deutschlands Landschaft ist aufgeräumt, auch in abseitigen Winkeln. Hier ist es einmal anders: ein Schutthaufen am Rande eines Gebüschs nahe den Braukohleabgrabungsflächen bei Jüchen. Auf diesem Steinhaufen waren in diesem Sommer bis zu 25 Tagfalterarten zu beobachten. Hier Schwalbenschwanz und Mauerfuchs am 12. September 2020. Fotos: Werner Kunz.

Aber es gibt noch einen anderen Faktor, der beim Thema Artenschwund nur selten beim Namen genannt wird, weil es dagegen keine ethisch vertretbare Abhilfe gibt: In Deutschland leben auf einem Quadratkilometer im Durchschnitt 233 Menschen, in Großbritannien nur 67 und in den USA rund 36. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass wir mehr als andere (auch europäische) Länder jeden letzten Winkel unseres Landes sorgfältig in Ordnung bringen und nutzen: Zwickel in der Agrarlandschaft, Unkrautecken, Schlamm- und Schuttflächen, bröckelndes Gemäuer, Gruben und Abbruchkanten, Stein-, Sand- und Abfallhaufen (Abb. 2), brüchige Schuppen und Scheunen werden beseitigt.

Wir haben nicht mehr die „Eh-da-Flächen“, die früher ohnehin vorhanden waren – eben eh da – und die in unseren Nachbarländern zum Teil noch vorhanden sind [6].

[1] Hallmann, C. A.; Sorg, M.; Jongejans, E.; Siepel, H.; Hofland, N.; Schwan, H. et al. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. In: PLoS ONE 12 (10). DOI: 10.1371/journal.

[2] Crossley, Michael S.; Meier, Amanda R.; Baldwin, Emily M.; Berry, Lauren L.; Crenshaw, Leah C.; Hartman, Glen L. et al. (2020): No net insect abundance and diversity declines across US Long Term Ecological Research sites. In: Nature ecology & evolution 4 (10), S. 1368–1376. DOI: 10.1038/s41559-020-1269-4.

[3] van Klink, Roel; Bowler, Diana E.; Gongalsky, Konstantin B.; Swengel, Ann B.; Gentile, Alessandro; Chase, Jonathan M. (2020): Meta-analysis reveals declines in terrestrial but increases in freshwater insect abundances. In: Science (New York, N.Y.) 368 (6489), S. 417–420. DOI: 10.1126/science.aax9931.

[4] Macgregor, Callum J.; Williams, Jonathan H.; Bell, James R.; Thomas, Chris D. (2019): Moth biomass increases and decreases over 50 years in Britain. In: Nat Ecol Evol 3 (12), S. 1645–1649. DOI: 10.1038/s41559-019-1028-6.

[5] Seibold, Sebastian; Gossner, Martin M.; Simons, Nadja K.; Blüthgen, Nico; Müller, Jörg; Ambarlı, Didem et al. (2019): Arthropod decline in grasslands and forests is associated with landscape-level drivers. In: Nature 574 (7780), S. 671–674. DOI: 10.1038/s41586-019-1684-3.

[6] Künast, C.; Deubert, M.; Künast, R.; Trapp, M. (2019): Die Eh da-Initiative. In: Biologie in unserer Zeit 49 (1), S. 28–38.


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12 Antworten zu Insektenschwund – Was macht Deutschland so speziell?

  1. Werner Kunz sagt:

    Noch ein Beitrag zum Thema, dass wir zur Rettung aussterbender Schmetterlinge zuerst einmal das Bewusstsein der Bevölkerung ändern müssen. Solange „Naturnähe“ das erste (und manchmal einzige) Ziel ist, werden wir hier nichts erreichen. Das Fatale ist, dass die ökologischen Daten über die Habitatansprüche bedrohter Arten längst vorliegen, aber kaum ins Naturschutzbewusstsein einfließen. Hier zwei Beispiele:

    Argynnis niobe kam ursprünglich in allen Bundesländern vor, ist heute in über 90% der ehemals besiedelten Regionen (Messtischblätter) verschwunden und überlebt noch überwiegend in den Dünen der Nordseeinseln [1]. (Bei der Kornweihe ist es übrigens ganz genauso). Warum ausgerechnet die Nordseeinseln, also dort wo wir Schmetterlinge am wenigsten erwarten? Daraus können wir den Schluss ziehen, dass solche Sanddünenlandschaften früher halt auch im Binnenland verbreitet waren. Aber die bekommen wir nicht durch Naturschutz zurück.

    Coenonympha hero ist ebenfalls aus den meisten Gebieten verschwunden. Der Grund?: Wir haben keine besonnten Grasfluren in den Wäldern mehr. Die Wälder sind zugewachsen. Nutzungsbedingte lichtungsreiche Wälder fehlen. Aber die bekommen wir nicht durch Naturschutz zurück.

    Wir hören den Satz zu selten, dass die Qualität eines Habitats durch die dort vorkommenden Arten definiert ist, und eben nicht durch unsere anthropogenen Sehnsüchte. Der Naturschutz ist in Deutschland zu wenig Zielartenschutz und zu sehr Naturschutz. Sätze wie „Wir geben die Senne der Natur zurück“ sind dafür beispielhaft.

    Groß war die Anteilnahme der Bevölkerung, als der Hambacher Forst durch RWE bedroht war. Dabei haben wir den Hambacher Forst längst vor 80 Jahren verloren, als dort mit den offenen Waldgrasfluren Coenonympha hero verschwand. Aber zu der Zeit sind die Leute nicht auf die Bäume geklettert, und es hingen keine Protestplakate gegen die Waldvernichtung in den Reformhäusern und Bioläden. Heute wird um einen Wald gekämpft, dessen Qualität als Habitat wir schon längst vorher verloren haben.

    [1] Salz, Alexander; Fartmann, Thomas (2009): Coastal dunes as important strongholds for the survival of the rare Niobe fritillary (Argynnis niobe). In: J Insect Conserv 13 (6), S. 643–654. DOI: 10.1007/s10841-009-9214-5.

  2. Werner Kunz sagt:

    Windschutzscheibe hin – Windschutzscheibe her: Das Verschwinden der Bläulinge bellargus, dorylas oder baton aus der Eifel sieht man nicht an der Windschutzscheibe. Und der hochgepriesene Nationalpark Eifel hat zur Rettung dieser Arten einen Null-Beitrag geleistet.

    Wenn Armin Dahl „schlagkräftige Organisationen“ fordert, dann kann ich nur zustimmen. Wir haben sie nicht und werden sie wohl auch nicht kriegen, weil sie zuerst einmal von der Mehrheit gewünscht werden müssten. Aber die Mehrheit versteht unter „Natur“ etwas anderes als die Erhaltung der Habitate, wo die letzten der verschwindenden Schmetterlinge leben (wie ich immer wieder auf meinen zahlreichen Vorträgen zur Kenntnis nehmen muss; siehe https://www.kunz.hhu.de/). Da können Sie doch keine Truppenübungsplätze, ehemalige Munitionslager oder Tagebauflächen empfehlen.

    Was macht Deutschland so speziell?

    Als Folge der Eiszeiten haben wir in Deutschland kaum endemische Arten (das ist in USA anders; da war der Süden zum Ausweichen offen). Fast alle Tagfalter Deutschlands (außer den hochmontanen Arten, z.B. Erebien) sind nacheiszeitliche Einwanderer aus den Offenländern des Ostens und Südens, z.T. auch des Nordens, die zu uns in den letzten Jahrtausenden in die vom Menschen überformten Habitate eingewandert sind, wo sie seitdem ein Leben am Rande ihres eigentlichen Kernvorkommens führen, das nach wie vor nicht in Deutschland liegt. Um viele dieser Arten zu erhalten, muss die Landschaft offengehalten werden. Um viele Rote-Liste-Arten vor dem Verschwinden zu bewahren, kann man die Natur nicht sich selbst überlassen; das sollte zumindest uns Schmetterlingsfreunden klar sein. Die Bibelriether’sche Ideologie „Natur Natur sein lassen“ ist leider der falsche Weg, um viele der Rote-Liste-Arten zu retten. Aber machen Sie das mal der Bevölkerung klar; die wünscht sich unberührte Natur und Wald, und die großen Naturschutzverbände stärken sie in dieser Sehnsucht. Aber die Verbände sind nun mal politische Institutionen, die von der Mitgliederstärke leben. Und was wollen Politiker in einer Demokratie: Mehrheiten.

  3. Tim Laußmann sagt:

    Nochmal zum Thema Insekten an der Windschutzscheibe: Letzte Nacht ist mir noch ein Gegenargument eingefallen: Die Daten des Kraftfahrt-Bundesamt sagen, dass im Jahr 1955 insgesamt 1,75 Millionen PWK auf Deutschlands Straßen fuhren. Heute sind es 45,8 Millionen. Wenn ich das mal so locker übertrage, bedeutet es, dass heute vor mir auf einer Schnellstraße 26 PKW Insekten plattfahren, wo 1955 nur ein PKW war. Oder anderes gesagt: wenn die Windschutzscheiben heute genauso effektiv arbeiten würden wie 1955 (was ich wegen der besseren Aerodynamik nicht glaube), würden sich die Insekten auf eine 26-fach größere Fläche verteilen. Da bleibt einfach für die einzelne Scheibe weniger übrig, es sei denn, die Insekten würden sich mächtig anstrengen und aus der Umgebung sehr zügig „nachfließen“. Wie schnell fliegen Insekten im Durchschnitt? Vielleicht mal eine nette Rechenaufgabe für einen Statistiker?

    • Frank Rosenbauer sagt:

      Das ist doch nicht wichtig, wie viel an der Windschutzscheibe klebt…der Insektenschwund ist real wie wir wissen und ich befürchte in absehbarer Zeit leider irreversible, da hilft auch kein klein klein mehr mit Blühstreifen o.ä. Die Landschaft insgesamt ist weiträumig total kaputt und wie du vor Kurzem richtig geschrieben hast, es fehlt der „große Wurf“. Wir können nur eins tun, und zwar den Entscheidungsträgern in Politik und Lobby immer wieder ein „Klotz“ am Bein sein um dadurch den Zug, der nach wie vor mit einem Affenzahn in die falsche Richtung fährt, etwas herunter zu bremsen, in der Hoffnung dass er irgendwann zum Stehen kommt…

      • Armin Dahl sagt:

        Lieber Frank, das reicht mir leider leider nicht, der Politik ein Klotz am Bein sein zu wollen.
        Was uns fehlt sind schlagkräftige Organisationen die abseits der gefühlsduseligen Naturschutzverbände und der völlig unterfinanzierten Behörden auf EIGENEN Flächen die richtigen Dinge tun.

        • Frank Rosenbauer sagt:

          Das stimmt. Ich freue mich über jeden der auf eigenen oder fremden Flächen etwas tut!!! Aber mit diesen oftmals kleinen Flächen auf die das zutrifft, wirst du für das Gesamtkonstrukt leider nicht viel erreichen. Da sollte man realistisch bleiben. Doch vom Grundgedanken her hast du natürlich recht, jeder der etwas tun kann um zu retten was noch zu retten ist, sollte das tun. Aufgeben und resignieren ist nicht…so schwer das manchmal fällt!

      • Tim Laußmann sagt:

        Natürlich ist der Insektenschwund bewiesen. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, dass man durch „zu schnelles Denken“ hier möglicherweise falsche Schlüsse zieht. Vor allem: Potentielle Gegenspieler könnten solche Äußerungen schnell als vollkommen haltlos darstellen (auch wenn sie es evtl. nicht sind). D.h. wir sollten immer darüber nachdenken, welche Argumente gegen unsere sprechen, bevor sich diese dann gegen uns wenden und wir als unglaubwürdig dargestellt werden können. Daher würde ich mit spekulativen, wenn auch plausiblen, Äußerungen vorsichtig sein.

  4. Christine Kuchem sagt:

    Guten Tag,
    vielen Dank für den interessanten Artikel.
    Ich glaube es gibt aber einen „kleinen“ Tippfehler: Muss es nicht heißen „Wir haben im letzten Vierteljahrhundert ….“ und nicht „…..in letzten Vierteljahr…“ ?

    Schöne Grüße
    C. Kuchem

  5. Armin Dahl sagt:

    Täglich werden in Deutschland rund 56 Hektar als Siedlungsflächen und Verkehrsflächen neu ausgewiesen, sagt das BMU. Das ist ein Quadratkilometer in zwei Tagen! Da ein großer Teil den Flächenverbrauchs (vor allem durch Aufforstungen!) ausgeglichen werden muss, geht sogar noch mehr Offenland für die Insekten verloren. Da muss man sich nicht wundern. Die Produktionsbedingungen in der Agrarindustrie tun ein übriges.

  6. Frank Rosenbauer sagt:

    Sehr anschauliche Gegenüberstellung der Situation in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, auch hinsichtlich der Einwohner/Fläche. Hinzu kommt noch, dass sich der Flächenbedarf pro Einwohner in Deutschland enorm ausgeweitet hat (siehe hier z.B. für die Wohnfläche eine Verdoppelung innerhalb weniger Jahrzehnte: https://www.gesis.org/fileadmin/upload/dienstleistung/daten/soz_indikatoren/Schluesselindikatoren/W004.pdf). Also, immer mehr Menschen beanspruchen immer mehr Raum…einfach kein Platz mehr für Insekten?

  7. Tim Laußmann sagt:

    Lieber Herr Kunz, wie immer kann ich Ihnen bei diesem Beitrag nur zustimmen, vielen Dank dafür! Insbesondere, dass wir aufhören müssen, den Insektenschwund vor allem auf das Klima oder den Insektizid-Einsatz auf den Agrarflächen zu reduzieren, ist sicher nicht alleine zielführend. Die Pflege, Förderung und der Schutz von artenreichem Offenland ist viel wichtiger – und hier sind Eingriffe durch den Menschen unerlässlich.

    Darüber hinaus habe ich noch einige Fragen bzw. Anmerkungen:

    Die Sache mit den Insekten an der Windschutzscheibe mag ja richtig sein, aber gibt es dafür tatsächlich Belege? Ist es wissenschaftlich bewiesen, dass an den Autoscheiben damals, vor 30-40 Jahren mehr Insekten klebten? Wie ist es mit der Aerodynamik moderner Fahrzeuge? Nicht selten sehe ich einen Kohlweißling vor mir auf der Straße, der dann von meinem Wagen nach oben „gedrückt“ wird und hinter dem Wagen unbeschadet weiterfliegt. Ich glaube ja auch, dass es tatsächlich so ist, wie Sie es sagen, aber vielleicht ist es auch nur eine Idee, die sich durch Plausibilität langsam zur gefühlten Wahrheit entwickelt? Alternativ könnte man auch behaupten, dass Insekten ausschließlich in der Umgebung von Schnellstraßen seltener geworden sind, weil sie sich dort eben nicht so gut entwickeln können.

    Genauso die Insekten am offenen Fenster: Mir ist zumindest eine Untersuchung (Altermatt F & Ebert D (2016) Reduced flight-to-light behaviour of moth populations exposed to long-term urban light pollution. Biol. Lett. doi: 12. 20160111. 10.1098/rsbl.2016.0111.) bekannt, wonach sich Nachtfalter an eine Umgebung mit viel Kunstlicht gewöhnen können und dieses seltener anfliegen. Das macht mir im Übrigen etwas Sorge, wenn ich auf unsere Daten blicke: wir beobachten Nachtfalter am Licht und schließen daraus auf ihre tatsächliche Häufigkeit. Nicht, dass sie sich an das viele Licht gewöhnt haben und dann unsere Lichtquellen nicht mehr anfliegen? Und die Arten, denen diese Anpassung nicht gelungen ist, sind eh schon verschwunden. Auch das ist natürlich nur ein Gedankenexperiment. Aber: kann man das widerlegen? Gibt es dazu wissenschaftliche Untersuchungen? Was ich sagen will: sollen wir solche „plausiblen Vermutungen“ weiter transportieren und dadurch verstärken, bis sie jeder für Tatsachen hält? Oder sind es tatsächlich bewiesene Fakten?

    Zudem erscheint es mir wichtig zu betonen, dass die zitierten Untersuchungen in den USA in „natürlichen“ bzw. „gemanagten“ Gebieten durchgeführt wurden. D.h. es wurde nicht untersucht, wie sich die Insektenbiomasse auf landwirtschaftlich genutzten Flächen entwickelt hat, die ja tatsächlich „gezielt“ mit Dünger und Pflanzenschutzmitteln behandelt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die großen Agrarflächen in den USA eine hohe Insektenbiomasse hervorbringen, von Artenvielfalt ganz zu schweigen. Ein weiterer wichtiger Punkt: viele „Schutzgebiete“ bei uns sind im Vergleich zu den Schutzgebieten z.B. in den USA geradezu mikroskopisch klein. Ich denke da z.B. an die Kalkmagerrasen in der Voreifel. Gibt es eigentlich Studien, ab welcher Minimalgröße ein solches Schutzgebiet zum „Eigenerhalt“ bestimmter Arten fähig ist? Ich denke, es gibt bestimmt eine Mindestgröße. Ich bin der Meinung, dass uns die „eh da“ Flächen, zwar für häufigere, anspruchslosere Arten großen Nutzen bringen werden, aber werden sie auch den anspruchsvollen Arten etwas nützen?

    Die Studie aus UK betrachtet die Biomasse der Noctuiden. Auch in unserer Region haben z.B. die Beobachtungen (Anzahl) der Noctuiden in den Wintermonaten deutlich zugenommen. Wir vermuten, dass milde Winter und daher höhere Aktivität der Falter und der Beobachter diesen Effekt verursachen. Ist das nun ein Grund, um in Jubel auszubrechen? Und: nur die Biomasse sagt ja nicht so viel über den Zustand der Gebiete hinsichtlich der Artenvielfalt. Bei uns sind auch die „anspruchslosen Ubiquisten“ und „Klimawandelgewinner“ Profiteure. Genauso könnte man die positive Entwicklung der Säugetierbiomasse auf der Erde sehen. Aber diese besteht nur noch aus 4 % frei lebenden Säugetieren, der Rest sind Menschen und Nutztiere (wenn man Schweine, Rinder und Hühner befragen könnte, wären sie uns bestimmt wahnsinnig dankbar, dass wir ihr genetisches Material so gefördert haben 😉 ), siehe: https://www.theguardian.com/environment/2018/may/21/human-race-just-001-of-all-life-but-has-destroyed-over-80-of-wild-mammals-study

    Viele Grüße und nochmals vielen Dank
    Tim Laußmann

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