Durch die Globalisierung der Produktion und des Handels mit Nahrungsmitteln und Pflanzen werden auch leicht Schädlinge von Kontinent zu Kontinent übertragen. Sind dann die Lebensbedingungen für den Neuankömmling in der neuen Heimat optimal, kann sich die Art etablieren und große Schäden in der einheimischen Flora anrichten. Als Beispiele in den letzten 15 Jahren können hierfür der Buchsbaum-Zünsler Cydalima perspectalis (Walker, 1859) oder auch die Kirschessigfliege Drosophila suzukii (Matsumura, 1931) dienen.
Die Wickler-Art Thaumatotibia leucotreta (Meyrick, 1913), deren Ursprungsheimat in Afrika südlich der Sahara liegt, wurde in den letzten Jahren in Europa immer wieder vereinzelt nachgewiesen. Die Art hat das Potential sich langfristig in Europa, besonders im Süden, in den Obst- und Gemüseplantagen sich zu etablieren. T. leucotreta lebt polyphag an den unterschiedlichsten Pflanzenteilen und ist auch nicht wählerisch bei den einzelnen Pflanzenfamilien. So wurde die Art unter anderem in unterschiedlichsten Citrus spp. (z.B. Zitronen und Orangen), in Capsicum spp. (z. B. Paprika und Chili), in Getreide (Mais und Hirse), in Rosaceaen (z.B. Pfirsiche und Rosen), Malvaceaen (z. B. Hibiscus, Baumwolle, Okraschoten), Quercus ssp. (Eichen) sowie in Coffea spp. (Kaffee) oder in Olea europaea (Oliven) nachgewiesen. Van der Geest et al. (1991) führte in seiner Veröffentlichung 50 Pflanzenarten in 30 Familien auf. T. leucotreta gilt weltweit als gefürchteter Schädling und wurde auch von der Europäischen Union in der Liste der 20 Quarantäne-Schädlinge aufgenommen.
Im September 2020 fand ich im Siedlungsbereich in Bottrop an einer UV-Lampe eine unscheinbare, leicht ramponierte Tortricide, die ich nicht richtig zu ordnen konnte. Eine schnelle Durchsicht der Bestimmungsbücher Tortricidae of Europe von J. Razowski (2002) führten auch zu keinem brauchbaren Ergebnis. Also beschloss ich, den Falter zu präparieren, um später für eine genaue Bestimmung eine Genitaluntersuchung durchzuführen. Bei der Präparation des Falters fielen die „Macken“ an den beiden Hinterflügeln und die farbig abgesetzten Haarbüschel an den Hinterbeinen auf (siehe Foto). Die beiden Macken an den Hinterflügeln interpretierte ich erst fälschlicherweise als eine Störung in der Metamorphose bei der Falterentwicklung und schenkte dem Merkmal leider keine weitere Beachtung. Die durchgeführte Genitaluntersuchung brachte für mich die nächste Überraschung. Das männliche Genital hatte zwar sehr große Ähnlichkeiten mit den typischen Merkmalen von Cydia spp., jedoch gab es keine 100-prozentige Übereinstimmung mit den GU-Vorlagen aus dem Bestimmungsbuch.
Nach einer anschließenden ausführlichen Recherche in der Bestimmungshilfe des Lepiforums wurde ich tatsächlich fündig und konnte dem Falter endlich den wohlverdienten Namen geben: es war ein Thaumatotibia leucotreta (Meyrick, 1913). Die Art wurde im Jahr 2020 in Deutschland, laut Lepiforum, noch in Niedersachen (Selsingen, Frank Geisler) und in Baden-Württemberg (Blumberg, Hans-Peter Deuring) außerhalb von Gewächshäusern nachgewiesen.
Bei der Art T. leucotreta liegt eindeutig ein Sexualdimorphismus vor. Nur die Männchen haben die beiden Makel auf den Hinterflügeln und ebenso die beiden unterschiedlichen gefärbten Haarbüschel an den Hinterbeinen (siehe Foto). Die Vorderflügel können in der Braunfärbung variieren. Die Größe der Falter wird in der Literatur beim Männchen mit 15 – 16 mm und beim Weibchen mit 19-20 mm angegeben. Eine sehr ausführliche Beschreibung und Fotos der einzelnen Stadien von T. leucotreta hat die European and Mediterranean Plant Protection Organization herausgegeben ( PM 7/137 (1) Thaumatotibia leucotreta (wiley.com) .
Ob T. leucotreta (Meyrick, 1913) sich hier in Deutschland dauerhaft in der freien Natur ansiedeln kann, oder nur als lästiger „Gewächshaus-Schädling“ in Gemüse- oder Zierpflanzenkulturen hält, wird nur von der tatsächlichen Kältetoleranz der Art innerhalb der einzelnen Stadien abhängen. Zur Zeit wird im Gartenbau davon ausgegangen, dass die Entwicklung der Art unter 10 °C gehemmt wird und unter 1 °C alle Stadien absterben. Pro Jahr kann die Art bei optimalen Lebensbedingungen fünf Generationen hervorbringen. Bei Temperaturen über 16 °C dauert ein Entwicklungszyklus vom Ei bis zum Falter 40 Tage (EPPO-Global Database). Eine reichliche Auswahl von Futterpflanzen über Gemüse (z. B. Erbsen, Tomaten, Paprika), Mais, Rosen, Eichen oder bestimmte Zierpflanzen (z.B. Hibiscus, Oleander usw.) ist in Deutschland vorhanden. Viele dieser Pflanzen werden im Gartenbau in Deutschland frostfrei überwintert.
Zukünftige milde Winter würden die Art ebenfalls unterstützen. Im Sommerhalbjahr wären, von den üblichen Temperaturen her, mehrere Generationen theoretisch möglich. In wie weit die Falter mit heißen Winden aus den südlichen Ländern wie z.B. Italien oder Frankreich oder vielleicht aus den Gartenbau-Gebieten der Niederlande nach Deutschland transportiert werden können, kann bis jetzt auch noch nicht beantwortet werden. Das letzte Jahr in Deutschland war von den Temperaturen optimal für die Entwicklung der Art T. leucotreta. Vielleicht auch deswegen sind die beiden Nachweise im Lepiforum und der eigene quer über das Land verteilt. Die nächsten Jahre werden es zeigen, ob sich eine Art aus Afrika in Deutschland dauerhaft etablieren kann.
Literatur und Internet (Zugriff: 05.07.2021):
COMMISSION DELEGATED REGULATION (EU) 2019/1702 of 1 August 2019 supplementing Regulation (EU) 2016/2031 of the European Parliament and of the Council by establishing the list of priority pests; Official Journal of the European Union L 260/8 11.10.2019; EUR-Lex – 32019R1702 – EN – EUR-Lex (europa.eu)
European and Mediterranean Plant Protection Organization: Diagnostics PM 7/137 (1) Thaumatotibia leucotreta; Bulletin OEPP/EPPO Bulletin (2019) 49 (2), 248–258; PM 7/137 (1) Thaumatotibia leucotreta (wiley.com)
EPPO Global Database
Thaumatotibia leucotreta (ARGPLE)[Overview]| EPPO Global Database
GBIF/Global Biodiversity Information Facility: Thaumatotibia leucotreta (Meyrick, 1913) (gbif.org)
Lepiforum: Thaumatotibia leucotreta – LepiWiki (lepiforum.org)
Razowski, J.(2003): Tortricidae (Lepidoptera) of Europe. Volume 1 und 2.Verlag F. Slamka, Bratislava.
Van Der Geest LPS, Wearing CH and Dugdale JS (1991) Tortricids in miscellaneous crops.. In L. P. S.van der Geest and H. H. Evenhius, eds. Tortricid Pests: Their Biology, Natural Enemies, and Control. World Crop Pests, Vol. 5.pp. 563–577. Elsevier, Amsterdam.