Wanderfalter im Herbst 2023, und was der Hunga Tonga-Hunga damit zu tun hat

Zum Jahresende sind mal wieder besonders viele Zuwanderer  oder Arealerweiterer aus Südeuropa in Westdeutschland unterwegs. Eine gute Gelegenheit, sich ein paar faunistische Raritäten anzuschauen.

Hohe Temperaturen in der Atmosphäre, Sandstürme in der Sahara die ihre Staubwolken bis nach Nordeuropa schicken, tropische Nächte im Oktober in Nordrhein-Westfalens Großstädten. Der Oktober 2023 ist viel zu warm, darin sind sich die Experten einig.

Ob das am vom Menschen gemachten „Klimawandel“ liegt, das werden erst die Messergebnisse der kommenden Jahre zeigen. Eine plausible  Erklärung für die aktuellen Wetterkapriolen bieten jedoch die Daten zu einem geologischen Ereignis im Pazifikstaat Tonga, dazu weiter unten mehr. Aber hier geht es ja in erster Linie um Schmetterlinge: Die ersten Frostspanner sind schon wieder unterwegs, jedoch kommen immer noch reichlich Wanderfalter aus Südeuropa zu uns.

Abbildung 1: Ein „Rauhputz-Bild“ als Beleg. Rhodometra sacraria ♂ an der Hauswand, angelockt vom Licht. D-NRW Haan, 10. Oktober 2023 (Foto: Dahl)

Und nachdem weiterhin zahlreiche KollegInnen und auch Laien ihre Beobachtungsdaten bei observation.org oder anderen Plattformen eingeben, können alle jetzt sozusagen „in Echtzeit“ verfolgen, wie sich die Nachweiskarten von Arten füllen, die vor wenigen Jahren nur ausnahmsweise in der Region zu sehen waren.

Ich will hier nur mal eine leicht erkennbare Art herausgreifen, den Rotgestreiften Wanderspanner – Rhodometra sacraria. Und um das in einen größeren Zusammenhang zu stellen, habe ich die Kartendarstellung aus observation.org gewählt: Ohne die Daten der Niederländer und Belgier können wir meines Erachtens die Funde in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nicht seriös einordnen. Und mittlerweile lassen sich auch gemeinsame Nachweiskarten mit ein paar Mausklicks erstellen

Einer der Falter von R. sacraria fand sich am 10.10.2023 kurz nach Mitternacht an meiner Hauslampe in Haan, die im Spätherbst häufig die ganze Nacht brennt. Notiert wurden nach Mitternacht noch 17°C, das Familienauto war am Folgetag von einer Staubschicht bedeckt, der Wetterbericht meldete Saharastaub, der auf weitem Umweg über den Atlantik nach Westeuropa gelangt ist.

Abbildung 2: Ausschnitt aus der Nachweiskarte von Rhodometra sacraria, 1.10.2023 –10.10.2023. Quelle: OpenStreetMap via observation.org, abgerufen am 11. Oktober 2023

Fünf observation-Nachweisen aus Deutschland aus der 1. Oktober-Dekade 2023 stehen 53 (!) Nachweise aus Holland und Belgien gegenüber. Auch aus Großbritannien sind in dem Zeitraum mehr als 25 Nachweise allein auf observation.org eingetragen worden. Auf der Insel kommt R. sacraria allerdings mittlerweile alljährlich in Massen an, wie man Webseiten wie records.nbnatlas.org entnehmen kann.

Wo kommen diese vielen Wanderspanner her? Ein Kollege aus dem Westen Spaniens schrieb mir dazu am 13. Oktober 2023 (mit google übersetzt): „auf den Straßen, auf denen ich in dieser Nacht [12. Oktober] unterwegs war, etwa 6 km, hätte es mindestens 5 Exemplare pro Busch gegeben. Vegetationszone am Flussufer. Aber es gibt noch mehr: Auf den nächsten 30 km Richtung Salamanca war und ist alles voll“.

Im Frühherbst hat es in Spanien nach jahrelanger Dürre ordentlich geregnet, wovon der kleine Falter offenbar profitiert und sich massenhaft vermehrt hat. Rhodometra sacraria frisst nach Angaben des niederländischen Feldführers von WARING, TOWNSEND & LEWINGTON (2020) als Raupe an Ampfer-Arten und Vogelknöterich. Falter, Raupen und Eier konnten bislang wohl in unseren Breiten den Winter nicht überleben.

Aber das kann sich ändern, und jetzt kommt endlich der Vulkan mit diesem herrlichen Namen ins Spiel. Der Hunga Tonga-Hunga ist ein submariner Vulkan im Pazifik östlich der Fidschi-Inseln, der am 15. Januar 2022 förmlich explodierte. Die Eruptionssäule reichte 57 Kilometer hoch bis über die Stratosphäre hinaus, dort draußen verglühen normalerweise die Sternschnuppen am Himmel. Es gab eine bis zu 18 Meter hohe Tsunamiwelle auf den Tonga-Inseln, alles ziemlich weit weg von uns. Die Druckwelle der Explosion umrundete die Erde mindestens viermal innerhalb von sechs Tagen, wovon wir auch nichts mitbekommen haben.

Übriggeblieben sind davon jedoch enorme Mengen an Wasserdampf in der Stratosphäre, nach Berechnungen hat die Eruption knapp 150 Millionen Tonnen Wasser dorthin hochgerissen. Diese Feuchtigkeit hat sich mittlerweile rund um den Globus verteilt. Und das soll nach Expertenmeinung den Effekt haben, dass sich die Erde wohl für einige Jahre zusätzlich erwärmen wird. Das alles ist übrigens keine Klimaschwurbelei, sondern durch Satellitendaten, Klimamodelle und Beobachtungen abgesichert, zusammengefasst anzuschauen in einem Video von wetteronline.de.

Die Meere sind, wie prognostiziert, im Herbst 2023 so warm wie noch nie. Der Atlantik steuerte im Spätsommer auf die 25-Grad-Marke zu, damit war das Meer z.B. vor den Kanarischen Inseln knapp zwei Grad wärmer als in normalen Jahren. Ein extrem warmer Atlantik wirkt sich natürlich auf das Wettergeschehen in Westeuropa aus, der Golfstrom ist sozusagen die Wärmepumpe des Kontinents. Was unsereinem eine Menge Heizkosten ersparen wird, kann Arten aus den Subtropen wie zum Beispiel dem Wanderfalter Rhodometra sacraria das Überwintern und die Fortpflanzung auch in unseren Regionen ermöglichen. Ob wir das nun gut finden oder nicht!

Literatur
Robin S. Matoza et al. (2022): Atmospheric waves and global seismoacoustic observations of the January 2022 Hunga eruption, Tonga. – Science, Vol. 377, No. 6601.  https://www.science.org/doi/10.1126/science.abo7063

Paul Waring, Martin Townsend & Richard Lewington (2018): Nachtvlinders: de nieuwe veldgids voor Nederland en België. 447 Seiten, Kosmos Uitgevers. ISBN-13: 978-9021569406


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8 Antworten zu Wanderfalter im Herbst 2023, und was der Hunga Tonga-Hunga damit zu tun hat

  1. Wolf-Achim Roland sagt:

    Faszinierende Einblicke!
    Rhodometra sacraria ist auch in Südafrika häufig. Ob wohl weiterhin Exemplare aus Südafrika bis nach Europa wandern – wie der Distelfalter? – oder geschieht diese Wanderung im Laufe mehrerer Generationen?
    Jedenfalls gehört R. sacraria in die Riege der „International Moths!, siehe
    ABN2021_2, p.12 ff
    https://metamorphosis.org.za/?p=articles&s=Results&pt=699

    • Karl-Heinz Jelinek sagt:

      Viele Wanderfalter sind in den wärmeren Zonen weit verbreitet. Sie wandern auch nicht von Südafrika nach Europa und erst recht nicht zielgerichtet. Der Distelfalter ist ein Vagabund. Er wandert irgendwo hin, kann sich dort unter günstigen Bedingungen massenhaft vermehren, was dann zu verstärktem Wanderverhalten führt und irgendwo Masseneinwanderungen auslösen kann. Möglicherweise verhält es sich mit R. sacraria ähnlich, aber das weiß ich nicht. Wandernde Nachtfalter entziehen sich eher der Beobachtung und sind plötzlich einfach da.

    • Armin Dahl sagt:

      das wäre mal spannend zu schauen in wieweit das Wanderverhalten genetisch fixiert ist. Da dürfte dann ja relativ starker Selektionsdruck drauf liegen, was die Richtung betrifft Und die jeweilige Jahreszeit.

  2. Peter Mülhausen sagt:

    Eine Fantastische Dokumentation und Beitrag, wieder etwas dazu gelernt, vielen Dank dafür.

  3. Karl-Heinz Jelinek sagt:

    Sehr schöner Beitrag! Aber eine kleine Korrektur halte ich für erforderlich: Die Sternschnuppen verglühen nicht in der Stratosphäre, sondern in der darüber liegenden Mesosphäre. Der Ausbruch des Hunga Tonga-Hunga Haʻapai erreichte aber auch diese atmosphärische Schicht, die oberhalb von etwa 50 Km beginnt. [Edit: ok Danke ja ist korrigiert!]

  4. Stefan Meisberger sagt:

    Wieder ein sehr spannender Beitrag. Danke, Armin!
    Werde heute Abend nach sacraria Ausschau halten.

  5. Siegfried Winkler sagt:

    Ganz tolle Dokumentation. Danke.

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